Nach vier langen Jahren sollte am 30.05.94 endlich mein Wunsch in Erfüllung gehen, meine Heimat zu besuchen. Aufgeregt und voller Erwartung, stand ich auf dem Flughafen in Rom, bis die Maschine nach Split endlich aufgerufen wurde. Nach nur einer Stunde Flugzeit sah ich, von Heimatgefühlen überwältigt, die Stadt Split an der wunderschönen Adriaküste. Plötzlich wurde mir die traurige Mission meiner Reise bewusst.
Auf der Aussichtsterrasse des Flughafens erwarteten mich ca. 20 Kinder mit ihren in schwarz gekleideten Müttern. Alles Witwen zwischen 25 und 35 Jahren. Ein trauriger Anblick, der mir fast das Herz zerriss. Wir nahmen uns in die Arme und vergossen gemeinsam viele Tränen. Wir kannten uns durch Briefe und Bilder seit anderthalb Jahren, solange ich seit der Gründung der ARCHE NOAH die Familien betreut habe. Gemeinsam fuhren wir zu einer der Mütter (Anna Zizic) und dort erfuhr ich durch lange Gespräche, wie unendlich unsere Hilfe benötigt wurde und vor allem, das unsere Spenden ihre gedachten Adressaten auch erreicht hatten.
PELJESAC
Nach zwei Stunden Schlaf wurde ich von einem Helikopter der kroatischen Armee nach Orebic auf der Insel Peljesac gebracht. Dort hat die ARCHE NOAH seit April 1994 27 bosnische Flüchtlingswaisenkinder zur Betreuung übernommen. Schon an den Gesichtern der Kinder konnte man das Leid ablesen, das ihnen im Krieg widerfahren war. In einem ehemaligen Feriendorf, welches in ein Flüchtlingslager umgewandelt wurde, leben zur Zeit ca. 2000 Frauen, Kinder und ältere Menschen. Mir steht heute noch lebhaft vor Augen, wie viel Leer, Hoffnungslosigkeit und Schmerz in den Gesichtern der Menschen zu lesen waren. Ihre einzige Hoffnung ist es, eines Tages wieder in Frieden nach Bosnien zurückkehren zu können. Mein Wunsch ist es, für die 27 schon durch die ARCHE NOAH betreuten Kinder baldigst Pateneltern zu finden, um noch weiteren Kindern dort helfen zu können.
Auch bei dieser 2. Station ist mir sehr deutlich geworden, wie unglaublich wichtig es für die Kinder ist, zu wissen, dass es noch Menschen auf der Welt gibt, die an sie denken und hilfreich Anteil nehmen an ihrer verzweifelten Situation. Insgesamt konnte ich dadurch feststellen, dass die Menschen in Orebic wenigstens menschenwürdig untergebracht sind und ausreichend zu essen bekommen. Eine Apotheke wurde auch mit Hilfe der ARCHE NOAH aufgebaut, in der die Menschen unentgeltlich die nötigsten vom Arzt verordneten Medikamente erhalten. Es fehlt noch an Kleidung, Schuhen und Medikamenten.
ARCHE NOAH konnte auch dazu beitragen, dass die Kinder sich sportlich betätigen können, z.B. durch eine großzügige Sachspende (Kindertennisschläger und Bälle) von Aida Milat, einer früheren kroatischen Tennisspielerin, sind sie in der Lage, mit den einheimischen Kindern Tennis zu spielen und nehmen auch schon an Turnieren teil. Dies ist ein großer Lichtblick im Leben der Kinder und eine Ablenkung vom täglichen Einerlei.
SPLIT
Schnell vergingen die Stunden und ich begab mich auf den Weg nach Split, nicht ohne den Kindern zu versprechen, bald wieder zu kommen. In Split besuchte ich noch einige Ärzte, die von uns laufend Medikamente bekommen, da die medikamentöse Versorgung nach wie vor sehr schlecht ist.
Nun ging es nach Tribunj, einem kleinen Fischerdorf in der Nähe von Sibenik, meinem Geburts- und Heimatort. Die Autofahrt verlief ruhig, es begegneten uns vorwiegend UNO-Soldaten und Militärfahrzeuge. In Tribunj angekommen, gönnte ich mir -völlig erschöpft- einen halben Tag Erholungspause, um auch meine Gefühle nach der Trennung von meiner Heimat zu verarbeiten. Die Häuser in unserem Dorf sind zwar weitestgehend verschont geblieben, aber einige mir nahestehende Menschen sind den vielen Granatenangriffen auf das Dorf zum Opfer gefallen und die Verbliebenen sind verängstigt und erschüttert.
SIBENIK
Im Kreis Sibenik hat die ARCHE NOAH 64 Kinder unter Patenschaft, die ich einzeln und gruppenweise vier Tage lang aufsuchte.
Die Freude war riesengroß und die Notwendigkeit unserer Hilfe konnte ich von Fall zu Fall immer wieder feststellen. Z.B. waren einige Frauen froh, ihre Kinder zur Schule schicken zu können. Oft fehlte schon das Fahrgeld für den Bus. Ein Großteil der Kinder sind Flüchtlinge aus der Kraina (einem von Serben besetzten Gebiet), die alles verloren haben, Heimat und Familie.
ZAGREB
Montag, den 6.6.94, nach acht Tagen fuhr ich mit meinem Bruder und Frau Fengler- die von ihrem Verlag gesandt war, um die 12 von ihnen übernommenen Patenkinder zu besuchen-, nach Zagreb.
Unterwegs sahen wir sehr viele zerstörte Ortschaften. Wir fuhren an Zadar vorbei, wo heftige Kämpfe stattgefunden haben und erreichten nach sechs Stunden Fahrt Zagreb. Dort betreut die ARCHE NOAH dreißig notleidende Kinder. Da einige in einem Kloster untergebracht sind, verabredeten wir uns dort. Die meisten von ihnen sind aus dem umkämpften Vukovar geflüchtet oder vertrieben worden. In vielen Fällen sind es Vollwaisen. Der Krieg hat schreckliches Elend angerichtet, auch bei den Frauen, deren Männer noch vermisst sind und die ständig in der Hoffnung leben, ihren Mann einmal wieder lebend in die Arme schließen zu können.
In der Großstadt Zagreb haben es Frauen und Kinder besonders schwer. Ich entschied mich, in dem Kloster Frankopanskia ein Nothilfedepot für besonders notleidende Menschen einzurichten. Die Ordensschwestern waren begeistert und stellten der ARCHE NOAH spontan Räume zur Verfügung und heute, während ich diese Zeilen schreibe, ist der erste Hilfstransport schon dort angekommen. Die restlichen anderthalb Tage verbrachte ich mit Einzelbesuchen und einem Besuch im Waisenhaus von Anita Braischer, die dort 20 Säuglinge, darunter auch erkrankte, betreut. Die Kinder werden liebevoll versorgt und sind in sauberen Bettchen untergebracht. Man benötigt jedoch dringen Säuglingsnahrung.
Mein letzter Besuch galt der kleinen blinden Victoria, die ARCHE NOAH schon im Herbst 1993 in Eppendorf in der Augenklinik untersuchen ließ. Leider konnten die Ärzte ihr nicht mehr helfen. Wir können nur noch versuchen, die schwere wirtschaftliche Situation der Familie zu erleichtern.
Zurückgekehrt nach Hamburg empfand ich große Dankbarkeit den Menschen gegenüber, die es ermöglicht haben, dass der Verein ARCHE NOAH bis jetzt so viel helfen konnte. Doch es ist mir klar, dass unsere Mission noch lange nicht zu Ende ist.
Hamburg, den 02. August 1994
Milena Ebel
Vorsitzende